Eine Einladung zum Klang-Spazieren in den Räumen der Stadt
Mit Ohr und Fuß
von: Dr. Stefanie KrebsWas hören Sie denn gerade? Lauschen Sie einfach auf Ihre Umgebung - ein, zwei Minuten nur! Machen Sie anschließend eine Liste aller Geräusche, die Sie gehört haben, vom Rauschen des Rechners über das anfahrende Auto bis zum Rufen des Grünspechts (eine Auswahl aus der Geräuschliste der Autorin). Diese Liste ist eine Momentaufnahme, Ihre persönliche Klanglandschaft an einem konkreten Ort in einem bestimmten Zeitraum.
Von Soundscapes spricht der kanadische Klangforscher R. Murray Schafer seit den 1970er Jahren. Damals begann er, weltweit Soundscapes zu "sammeln", das heißt ausfindig zu machen und mit Tonaufnahmen festzuhalten. Ein bis heute wachsendes Tonarchiv an der Universität von Vancouver vereint die Klanglandschaften städtischer Plätze, industrieller Anlagen oder ländlicher Bushaltestellen.
Das erfordert nicht nur tontechnisches Wissen und Ausrüstung. Die Basis dieser Arbeit ist zunächst ein genaues Hinhören, eine Fähigkeit, die bei vielen Menschen verkümmert ist, so Schafers Erfahrung. Die westliche Kultur gibt dem Sehen den Vorzug gegenüber anderen Sinnen. Wir schauen genau hin, aber Geräusche blenden wir aus, wenn wir nicht gerade im Konzertsaal sitzen oder uns mittels Kopfhörer unseren persönlichen Hörraum schaffen.
Aus Sicht von Schafer und der gesamten Soundscapebewegung, die sich mittlerweile formiert hat, beschneiden wir damit unsere Erfahrung von Welt um etwas Wesentliches. Was unterscheidet denn die hörende von der sehenden Wahrnehmung der Welt, oder - was uns hier besonders interessiert - der Stadt? Mit unseren Augen nehmen wir die Stadt als etwas uns Gegenüberliegendes wahr, wir wählen eine bestimmte Blickrichtung, einen Ausschnitt von Welt, wir bleiben auf Distanz. Hörend sind wir mittendrin, wir nehmen Klänge und Geräusche rings um uns herum wahr, wir bleiben Teil des Geschehens.
Anstiftung zum Hören
Um diesem Wahrnehmungsverlust entgegenzuwirken, entwickelte Schafer ein sogenanntes "Ear Cleaning Program", das er mit Kindern genauso wie mit Erwachsenen durchführte. Sein Buch "Anstiftung zum Hören" versammelt "100 Übungen zum Hören und Klänge Machen". Beim Lesen dieses Artikels sind Sie eingeladen, ein wenig Ohrenputzen im Sinne von Schafer zu betreiben. Manche Übungen werden Sie auffordern, Ihr Hörkino im Kopf zu aktivieren, für andere Übungen müssen Sie vor die Tür treten, an die nächste Straßenecke gehen oder sogar einen kleinen Hörspaziergang unternehmen. Die erste Übung haben Sie bereits absolviert, indem Sie einfach auf Ihre Umgebung lauschten. Wir machen gleich weiter und springen zu Übung Nr. 9:
"Achten wir einmal auf Schritte!" Nicht auf die eigenen, dazu kommen wir später, horchen wir zunächst auf die Schritte anderer Menschen, genauer gesagt, auf die Geräusche, die deren Schritte verursachen. Schafer empfiehlt, sich an eine belebte Straßenecke zu stellen und einfach den Schritten der Passanten zu lauschen. Verlassen Sie also kurz Ihren Bürostuhl oder Ihr Sofa und gehen Sie an die frische Luft! Was werden Sie hören? Eine Vielzahl wechselnder, sich teilweise überlagernder Geräusche von Schuhsohlen und Absätzen, die auf Pflaster treten oder aufschlagen, zudem eine Vielzahl an Geschwindigkeiten, Taktungen und Rhythmen des Gehens.
Geräusch, Lärm oder Klang?
Wie beschreibe ich das Gehörte? Automatisch greifen wir auf das Vokabular der Musik zurück: Die Schuhe sind die Instrumente, die von den Passanten gespielt werden. Wenn Sie nun Schafers Übung Nr. 9 erweitern und die Straßenecke wechseln, kommt noch der umgebende Stadtraum ins Spiel. Sie werden hören, dass dieselben Spieler mit ihren Schuh-Instrumenten an der nächsten Ecke anders klingen, weil nicht nur der Wegebelag gewechselt hat, sondern auch der Klangraum, die gebaute Stadt. Glasfassaden von Hochhäusern reflektieren den von Schritten erzeugten Schall anders als niedrige Steinhäuser oder Baumreihen. Um im Wortschatz der Musik zu bleiben, die Stadt bildet mit ihren spezifischen akustischen Eigenschaften den Konzertsaal. Allerdings wirken bei der Planung des Stadtraums in den seltensten Fällen Akustiker mit. Während das Hören im Konzertsaal zelebriert wird, bedenkt man es im Stadtraum in der Regel erst dann, wenn es zum Problem wird. Dann spricht man längst nicht mehr von Klang, sondern von Lärm.
"Machen wir auf unserem Weg zurück einen Hörspaziergang!" Mit Übung Nr. 13 führt Schafer eine Urform des Hörspaziergangs ein, der seitdem von Klangkünstlern, -pädagogen und -gestaltern vielfach variiert und weiterentwickelt wurde. In der schlichten Form, die Schafer als "Listening Walk" bezeichnet, gehen die Teilnehmer ohne zu reden hintereinander eine bestimmte Strecke durch die Stadt (oder die Landschaft). In der Konzentration auf das Hören beim Gehen wird die Wahrnehmung der Geräusche der Stadt geschärft. Probieren Sie es aus, der Effekt dieser einfachen Übung ist verblüffend: Wo wir zunächst einförmiges Verkehrsrauschen hören, das alle anderen Geräusche übertönt, treten im Laufe des Hörspaziergangs Einzelklänge hervor, Gesprächsfetzen aus einem offenen Fenster, das Quietschen einer Kreissäge, der Gesang eines Vogels und natürlich unsere Schritte.
SUG-Stellenmarkt
Mit den klanglichsten Schuhen
In Schaferscher Tradition und darüber hinaus bewegt sich "SchuhzuGehör_path of awareness", eine Serie von Hörspaziergängen der Künstlerin katrinem, die unter dem Titel Gangbilder/Gaits mittlerweile über 40 Hörspaziergänge weltweit konzipiert und umgesetzt hat. Unter Gangbildern versteht sie die jeweilige Art und den Rhythmus unserer Schritte beim Gehen, es seien die "am individuellsten ausgeprägten Bewegungsmuster des Menschen", die sich fast ausschließlich im öffentlichen Stadtraum abbilden. Beim Hörspaziergang verbinden sich die Schritte der Teilnehmenden mit dem durchlaufenen Stadtraum in besonderer Weise, die von jeder Person anders erlebt und gehört wird. Ob in Berlin, Belfast oder Braunschweig, mittels einer von der Künstlerin gezeichneten Partitur kann der Wahrnehmungspfad individuell gegangen werden. Mit auf den Weg gegeben wird folgender Rat: "Gehen Sie möglichst ohne Gepäck und lassen Sie sich auf das eigene Schreiten ein. So kann man klare Raumschwellen, also Übergänge von einem auditiven Raum in einen anderen, sowie kleinste Raumveränderungen aufspüren."
Der Braunschweiger "Path of Awareness" entstand 2017 im Rahmen des Klangkunstfestivals "klangstaetten | stadtklaenge" vom Braunschweiger Allgemeinen Konsumverein. Er war dort Teil eines Klangparcours durch den Stadtraum, den sieben Künstlerinnen und Künstler mit Studierenden der Klangkunstklasse der HBK Braunschweig entwickelten. Anders als ein kurzer Listening Walk stellt der 6,5 Kilometer lange Weg durch die Stadt eine Herausforderung für die Aufmerksamkeit der Teilnehmer dar. Der Empfehlung der Künstlerin folgend, sich mit den "klanglichsten Schuhen" auszustatten, tönen die eigenen Schritte beim Gehen durch schmale Gassen über Kopfsteinpflaster tatsächlich klangvoll. Die sorgfältig erarbeitete Choreografie führt zwar mitten durch die Innenstadt, bewegt sich aber dennoch abseits üblicher Pfade, so dass die Besucher die Stadt mit den für sie typischen Brüchen - von Mittelalter bis Nachkriegsmoderne - wahrnimmt, genauer gesagt hört. Im Tordurchgang hallen die Schritte merklich anders als an der breiten Hauptstraße, im Laufe des Spaziergangs nimmt man schließlich auch klangräumliche Feinheiten wahr: Mauervorsprünge, Hecken oder zurückgesetzte Hauseingänge.
Was hören wir warum?
Nicht nur städtebauliche Brüche kennzeichnen den Pfad, sondern auch eine Reihe von Friedhöfen: Sechsmal bilden sie eine klangräumliche Zäsur im Hörparcours. Eigentlich klingt es hier gar nicht so anders, der Verkehrslärm macht nicht an der Friedhofsmauer Halt. Doch verbinden wir den Ort des Friedhofs mit einer Atmosphäre der Stille und Zurückgezogenheit. Kulturelle Prägung, Erinnerungen und Erfahrungen beeinflussen unser Ohr, das sich allmählich nach Entspannung sehnt. So machen wir auf diesem Hörspaziergang nicht nur die inspirierende Erfahrung, dass wir Räume und das Leben, das sich in ihnen abspielt, hören können. Wir erleben auch, dass aufmerksames Hinhören auf die Umgebung anstrengend ist. Wenn wir nicht darin geübt sind - und wer ist das schon? -, muss sich das Hören immer wieder gegen die Dominanz des Sehsinns behaupten.
"An wie viele Klänge aus Ihrer Jugendzeit können Sie sich erinnern, die es heute nicht mehr gibt?", fragt R. Murray Schafer in Übung Nr. 78, um Sie in Übung Nr. 81 aufzufordern, "einen Aufsatz über die ersten Klänge, an die Sie sich aus Ihrer Kindheit erinnern können," zu schreiben. Übung Nr. 82 nimmt den zeitlichen Faden in Richtung Zukunft auf: "Listen Sie alle neuen Klänge auf, die in den letzten ein oder zwei Jahren aufgetaucht sind!" Im Haus sind es zum Beispiel die vielen technischen Geräte, die heute mit uns kommunizieren. Und im Stadtraum? Das surrende Fahrgeräusch der neuen Straßenbahn, laute Smartphonegespräche der Passanten oder das Rumpeln von Lastenfahrrädern. Deutlich wird zweierlei: Zum einen verändern sich die Klanglandschaften, in denen wir leben, kontinuierlich. Das heißt nicht, dass sie immer lauter werden. Über Kopfsteinpflaster rumpelnde Kutschen lassen sich weniger überhören als heutige Elektrobusse. Zum anderen erweisen sich unsere persönlichen auditiven Erinnerungen als äußerst machtvoll. Hat die Erinnerung an Klänge aus Ihrer Vergangenheit nicht sofort bestimmte Bilder und Situationen heraufbeschworen? Das klapprig-rhythmische Radgeräusch der Rollschuhe auf dem asphaltierten Fußweg wird durch einen Splitthaufen knirschend gestoppt. Das Rattern des Handrasenmähers verbindet sich mit einem Samstagnachmittag im Reihenhausgarten mit Burgenbauen aus frisch gemähtem Gras.
Hörbare Nachkriegsmoderne
Nicht nur die Klänge verändern sich, sondern auch deren Resonanzkörper, der Stadtraum. "Wie klingt die Stadt?" hieß der geführte Klangspaziergang, den wir vom Büro Tonspur Stadtlandschaft 2016 mit der Hörregion Hannover angeboten haben. Als interdisziplinäres Netzwerk der Region Hannover versammelt die Hörregion Hörkompetenzen aus Wirtschaft, Gesundheit, Bildung und Kultur.
Bei der Konzeption des Klangspaziergangs durch die Innenstadt von Hannover interessierte uns die Frage, ob es typische Klänge in einer Stadt gibt, die - ähnlich wie Braunschweig - durch Kriegszerstörung, städtebauliche Brüche, Nachkriegsmoderne und autogerechte Planung geprägt ist. Kann man das hören beziehungsweise auf einem Spaziergang hörbar machen?
Mit dieser Frage folgten wir Schafers Übung Nr. 87: "So wie jeder Ort ein Wahrzeichen hat, das ihm seinen Charakter verleiht, wird jeder Ort sein Klangwahrzeichen haben. Welche Klänge machen Ihren Ort zu etwas Besonderem?" Wir fanden in Hannover kein Schiffströten wie im Hamburger Hafen, kein Big Ben-Läuten wie in London, sondern eine Reihe anderer, zugegeben nicht so leicht wahrnehmbarer Klangwahrzeichen. In Hannovers städtebaulichem Nachkriegskonzept fließender Räume fließen auch die Geräusche der Stadt, markante Klangzeichen sind schwer auszumachen. Sie finden sich weniger im Straßennetz, sondern vielmehr in dessen Zwischenräumen, in Höfen, Passagen oder U-Bahntunneln. So führten wir die Teilnehmer unseres Klangspaziergangs unter anderem in ein Klangkarussell sowie durch eine gestapelte Klanglandschaft.
Das Klangkarussell überrascht uns im Inneren eines Parkhauses von 1975, einer Zeit, in der man dem Individualverkehr huldigte. Das Büro Wilke Architekten errichtete damals einen Autotempel, der jeden Parkplatz mit einem eigenen Balkon ausstattete. Das Parkhaus wird über eine sogenannte Doppelwendrampe im Zentrum des Gebäudes erschlossen. Die spiralförmigen Spuren der Auf- und Abfahrt liegen geschossweise übereinander. Hörbar wird das Klangkarussell, wenn man sich in die Mitte der Rampenspirale stellt und den auf- und abfahrenden Autos lauscht, deren Fahrgeräusche sich spiralförmig um den Hörenden herum nach oben beziehungsweise unten schrauben.
Die gestapelte Klanglandschaft entstand ebenfalls in den 1970er-Jahren an einem Knotenpunkt des hannoverschen U-Bahnsystems. Auf der Rolltreppenfahrt von Ebene 0 (einem verkehrsumbrausten, räumlich fließenden Stadtplatz) hinunter auf die Verteilerebene -1 verschiebt sich die Klanglandschaft allmählich: das Verkehrsrauschen tritt zurück, stattdessen dringen leise die Brems- und Anfahrtsgeräusche der U-Bahn ans Ohr. Auf der nächste Rolltreppe abwärts zur Ebene -2 der U-Bahngleise schwellen diese Geräusche an, nun begleitet von den Lautsprecheransagen. Auf dem Weg zurück an die Erdoberfläche vollzieht sich der Klangwandel in umgekehrter Richtung.
Der Stadt Klänge hinzufügen
Langfristiges Ziel des Hörspazierens ist - nicht nur - für R. Murray Schafer die aktive Teilnahme der Menschen am Klanggeschehen. Voraussetzung ist ein Bewusstsein dafür, dass die Klanglandschaften, in denen wir leben, gestaltet werden - in einer Weise, die über Lärmreduktion hinausgeht. Darauf zielen die letzten seiner 100 Übungen, die er mit einer einfachen Aufforderung einleitet: "Finden Sie einen Klang, mit dem Sie Ihre private Umgebung bereichern!" und "Verbannen Sie einen unakzeptablen Klang!" Es sind erste Schritte einer Klanggestaltung, die sich vom privaten Umfeld auf den öffentlichen Raum, auf Straßen, Parks und Plätze ausweiten kann.
Einem besonderen städtischen Ort spielerisch neue Klänge hinzuzufügen, war eine Strategie bei unseren Klangspaziergängen für die Städte Dessau und Hannover im Rahmen des Verbundprojektes "Städte wagen Wildnis". Ziel des Projektes ist eine höhere Artenvielfalt auf ausgewählten städtischen Freiflächen, unter anderem durch naturnähere Pflege. Besondere Vermittlungsformen sollen der Bevölkerung die städtische Wildnis näher bringen. Wir wollten Stadtwildnis übers Ohr erfahrbar machen - mithilfe eines überdimensionierten Hörrohrs mit integriertem Lautsprecher. Das bringt an ausgewählten Stationen eines Spaziergangs Klänge zu Gehör, die zwar mit dem Ort verbunden sind, die man dort aber nicht mehr oder nicht immer hören kann. In Hannover führte der Spaziergang über eine Brachfläche, deren Kalksteinbrüche mit Reststoffen der Metallindustrie verfüllt worden waren. Bestandteile der Klangcollage, die sich entlang eines Rundweges aufreihte, waren sowohl Rufe von Eulen (frühere Steinbruchbewohner) als auch Maschinengeräusche der damaligen Metallfabrik. Heute bewohnen Heuschrecken die karge Stadtbrache, die von Ökologen der Leibniz Universität Hannover im Rahmen einer Begleitforschung kartiert werden - übers Ohr. An ihrem Zirpen lassen sich die meisten Heuschreckenarten deutlich voneinander unterscheiden. Über das Hörrohr bildeten mehrere Heuschreckengesänge Bausteine der linearen Klangcollage. Sowohl die Artenvielfalt der Stadtwildnis wurde klanglich erfahrbar als auch deren besondere Entstehungsgeschichte.
Hier endet unser Streifzug durch Schafers "Ear Cleaning Program" einschließlich der Abstecher in das aktuelle Feld der Hörspaziergänge. Das letzte Wort soll noch einmal R. Murray Schafer haben, der uns auch ein Vierteljahrhundert nach Herausgabe seines Buches noch inspirieren kann: "Damit haben wir für den Moment das Ende unserer Überlegungen erreicht. Nun liegt es an Ihnen, die mit diesen Erfahrungen begonnene Arbeit fortzusetzen und weiterzutragen - auf jedem Weg, auf den Sie Ihre Fantasie führen mag."
Literatur
Schafer, R. Murray 2002 [1992]: Anstiftung zum Hören. Hundert Übungen zum Hören und Klänge Machen. Aarau.
Zu SchuhzuGehör_path of awareness:
www.katrinem.de; www.klangstaetten.de/01.php#accordion3
Zu den Klangspaziergängen von Tonspur Stadtlandschaft:
www.tonspur-stadtlandschaft.de; www.hörregion-hannover.de; www.staedte-wagen-wildnis.de