Herbst in der Musik
„Bunt sind schon die Wälder . . . “
von: Prof. Dr. Hanns-Werner HeisterVorrangig erscheinen sie als Temperaturveränderungen, die durch den gleichbleibenden Neigungswinkel der Erdachse während des Jahresumlaufs der Erde um die Sonne entstehen, wobei sich der Einstrahlwinkel und damit die Intensität der Sonneneinstrahlung verändert. Auch hier zeigt sich die Komplexität des scheinbar Einfachen und Alltäglichen. Nicht nur sind die Jahreszeiten auf der Süd- und Nordhalbkugel der Erde gegenläufig. Sie unterscheiden sich auch nach Klimazonen – in den subtropischen und tropischen Regionen gibt es, vereinfacht gesagt, nur zwei, Trocken- und Regenzeit, als drittes kann noch eine Übergangszeit angesetzt werden, und um die beiden Pole herum auch nur jeweils zwei, ein halbes Jahr Tag oder Nacht. In der äquatorialen Tropenzone gibt es gar keine Jahreszeiten, nur ein "Tageszeitenklima".
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Aber auch hierzulande sind die Jahreszeiten verschieden definiert. Für die astronomischen Jahreszeiten ist die scheinbare jährliche Bahn der Sonne um die Erde maßgeblich, die mit den Eckpunkten Tages- und Nachtgleiche im Frühling und im Herbst sowie den beiden Sonnenwenden die Vierzahl der gemäßigten Breiten ergibt. Der Herbst beginnt so gesehen am 23. September, wobei sich die kalendarischen Daten ihrerseits leicht verschieben können. Dem folgt der betont rationale Kalender der Französischen Revolution, gültig von 1792–1805, deren Anhänger Reichardt war. Die Herbstmonate sind Vendémiaire "Weinlese", 22. September bis 21. Oktober, Brumaire "Nebel", bis 20. November und Frimaire, "Raureif" bis 20. Dezember. Diese Einteilung der Quartale entspricht nicht so recht dem wahrgenommenen, "gefühlten" sowie von der Vegetation her bestimmten Jahreszyklus. Ihm kommt die meteorologische Jahreszeit näher. Ihr zufolge umfasst der Herbst schlicht die Monate September, Oktober, November. Die zehn phänologischen Jahreszeiten bilden ein noch feineres Raster, orientiert vor allem an Naturereignissen wie den Entwicklungsstadien von Zeigerpflanzen. Die regionalen Unterschiede sind groß, und auch die Schwankungen an demselben Ort. Überdies gibt es historische Verschiebungen, die nicht zuletzt mit dem Klimawandel zusammenhängen. So stieg das mittlere Eintrittsdatum des Spätherbsts in Deutschland seit 1951 bis 2014 vom 6. auf den 14. Oktober.
Musikalischer Herbst im Zyklus der Jahreszeiten
In der Musik sind die Jahreszeiten als Ausschnitt aus dem riesigen Feld "Natur" ein überraschend umfangreicher Gegenstand und Thema. Auch wenn der Frühling, da assoziiert mit einem anderen großen Thema, der Liebe, noch häufiger vorkommt, ist die Fülle der auf den Herbst bezogenen Musik kaum überschaubar. Rainer Maria Rilke (1875–1926) hat den Herbst häufig bedichtet, sicher auch wegen der melancholischen Stimmungen, die vor allem der November nahelegt. Und diese Gedichte wurden häufig vertont. Aber auch andere Aspekte kommen bei ihm zum Wort. Für die Ernte, ein zentraler Punkt des Herbstes, soll in seinem "Herbsttag" (1902), einem untertänigen Bittgebet, Gott sorgen, obwohl das Natur und Arbeit sowieso tun.



Herbstlust und Herbstlied
Herbstlust von Johann Friedrich Reichardt (1752–1814) mit dem Beginn "Bunt sind schon die Wälder" wurde wie manche dieser Lieder zum Volkslied, das heute vielleicht grade noch eines ist. Reichardt entwickelte maßgeblich das deutschsprachige klavierbegleitete Kunstlied, das dann Schubert zu einer ersten Blüte führte. (Abb.: 2)
Schubert veränderte für seine Vertonung den Titel. Wie Reichardt "fallen" die Blätter in einer abwärtsgehenden Melodie, eine Umkehrung der Tonhöhen des Anfangs. Seine Betonung des nebensächlichen "Und" durch die Längung, den Spitzenton des gesamten Lieds und noch die Silbenbrechung sind allerdings, bei allem Respekt, keine ganz geniale Lösung. (Abb.: 3)
Den Text schrieb Johann Gaudenz Freiherr von Salis-Seewis (1782). Der Realität des agrarischen Jahreslaufs entsprechend betont er die Ernte und wässert einem geradezu den Mund: "Wie die volle Traube / an dem Rebenlaube / purpurfarbig strahlt / Am Geländer reifen / Pfirsiche mit Streifen / rot und weiß bemalt. // Dort im grünen Baume / hängt die blaue Pflaume / am gebognen Ast / gelbe Birnen winken / daß die Zweige sinken / unter ihrer Last. // Welch ein Apfelregen / rauscht vom Baum!" Die Obsternte wird nun durch eine diskrete, aber fühlbare Erotik ergänzt: "es legen / in ihr Körbchen sie [die Äpfel] / Mädchen, leicht geschürzet / und ihr Röckchen kürzet / sich bis an das Knie." Logischerweise folgt die Ergänzung zur säkularen Trinität von "Wein, Weib und Gesang": "Winzer, füllt die Fässer / [. . . ] Lohn für Müh und Plage / sind die frohen Tage / in der Lesezeit // Unsre Mädchen singen / und die Träger springen / [. . . ] Geige tönt und Flöte / bei der Abendröte / und bei Mondenglanz / schöne Winzerinnen / winken und beginnen."
Wohl nicht so bekannt wie die Musik von "Der Herbst" aus Antonio Vivaldis Vier Jahreszeiten ist die poetische Textierung des Werks. Jeder Satz erhielt ein Erklärendes Sonett zu dem Concerto mit dem Titel "Der Herbst" von Herrn Don Antonio Vivaldi. Die beiden ersten Quartette feiern die Ernte und bringen in die Musik ihrerseits Musikalisches ein, indem sie Tanz und Gesang nennen – und sie benennen humorvoll die Folgen der Weinernte. "Der Bauer bezeugt mit Tänzen und Liedern / seine Freude über die glücklich eingebrachte Ernte. / Und von dem Saft der Rebe sind viele beschwingt. / Sie beenden mit Schlaf ihr Freudenfest." (Vers 1–4)
Die beiden abschließenden Terzette bringen eine Wende ins weniger Heitere mit einem anderen Ende, bei der die Erwähnung der Musik ebenfalls nicht fehlt: "Jäger in der Morgenfrühe ziehen zur Jagd / mit Hörnern und Flinten und Hunden. / Es flieht das Wild, und sie verfolgen die Spur. // Schon verängstigt und matt vom großen Lärm / der Flinten und Hunde droht Verwundung. / Von der Flucht erschöpft, aber auch besiegt verendet es."¹ Auch zu diesem Aspekt hat Rilke etwas zu sagen: "Ich sehe seit einer Zeit, / wie alles sich verwandelt. / Etwas steht auf und handelt / und tötet und thut Leid." (Ende des Herbstes. I. Strophe, in Das Buch der Bilder, 1920)
![7 Joseph Haydn: Die Jahreszeiten. Leipzig: C.F. Peters, n.d.[1885], Hob. XXI:3. Musik Atmosphäre](/media/_processed_/a/8/csm_musik-herbst-atmosphaere-20008-7_bfd2f39413.jpg)


Fleiß und Ungleichheit
Die Jahreszeiten, ein weltliches Oratorium, sind das letzte von Haydns vier Oratorien, 1801 uraufgeführt. Das Libretto von Gottfried van Swieten, nach dem englischen Langgedicht The Seasons von James Thomson von 1730, machte Haydn wegen seiner etwas unpoetischen Gestaltung viel Mühe. Und belustigt meinte er, er sei sein ganzes Leben lang fleißig gewesen, habe aber hier zum ersten Mal die Gelegenheit gehabt, den Fleiß zu preisen, in Nr. 20, Terzett und Chor, wenn das Liebespaar Hanne und Lukas mit Simon singt "Von dir, o Fleiß, kommt alles Heil. / Die Hütte, die uns schirmt, / die Wolle, die uns deckt, / die Speise, die uns nährt [. . . ]." Ein Preis des Fleißes ist dann wieder Weingenuss, gefeiert in Nr. 27 mit einem raschen Reigentanz im 6/8-Takt.
Wie bei Vivaldi kommt als Drittes zu Korn und Wein die Jagd. Hier bringt Haydn in das vorwiegend episch-lyrische Werk, wie bereits beim Sommergewitter, eine musikgestützte Dramatik hinein. Am Ende liegen hier, wie bei den Blättern, die im Feld Gefallenen am Boden – aber ordentlich. Hier sind es Hasen: "Schon fallen sie und liegen bald / in Reihen freudig hingezählt." (Nr. 25 Rezitativ Lukas) Im Wald wird das Töten von Hörnerschall begleitet (Abb.: 8).
Nicht nur in der Musik Europas, sondern in aller Welt spielen die Jahreszeiten eine große Rolle. So ist auch das "Besingen des Jahresrhythmus eine hervorstechende Charaktereigentümlichkeit des Liedersingens der Chinesen."² Die Freude an der erfolgreichen Ernte besingen, wie bei Vivaldi oder Haydn, etwa die folgenden (undatierten) Verse: "Im Herbst, da wird das Getreide auf die Tenne geschafft, / Die Hirse [zum Dreschen] leuchtet gelb wie das Gelb des Goldes; / Wenn wir am Körper auch Mühsal spüren, / Im Herzen tragen wir Frieden."³ Als würde ein Schleier weggerissen, wird aber in der Gattung der "Knechtelieder" die ungleiche Verteilung des Erarbeiteten thematisiert. So heißt es im Lied des Bauernknechtes über die zwölf Monate, weitverbreitet, ursprünglich aus der Provinz Jiangxi (Kiangsi), entstanden möglicherweise in der Ming-Periode (1368 bis 1644): "[. . . ] Im siebten Monat, da fühlt der Knecht die Kühle des Herbstwindes, / Er tragt die Lasten mit Frühgetreide auf die Tenne, — / Das bessere Korn wird verwahrt zum Essen für den Herrn, / Das minderwertige wird dem Knecht gegeben als Lohn. / [. . . ] Im neunten Monat, da wäre für den Knecht das Fest des doppelten Yang/ In allen Familien begeht man es mit lange gelagertem Wein. [. . . ] Doch der Wein, den der Arbeiter einkellert, wird vom Herrn getrunken. Im zehnten Monat muss der Knecht die Ochsen in die Hürde bringen, / Mit dem Besen aus Bambuszweigen fege ich den Ochsenstall; /Wenn ich von drei chien dreieinhalb gefegt, / Trinkt der Herr Wein, der Knecht muss Speichel schlucken. [. . . ]4 (Abb.: 9)
Jahreszeit, Lebensalter und Melancholie
Wieder andere Töne und emotionale Farben verbinden dann Felix Mendelssohn Bartholdy und Fanny Hensel, geb. Mendelssohn (1805–1847) mit der Jahreszeit in ihren schönen Herbstliedern um 1840. Solche Stimmungen stehen auch im Zentrum des 2. Satzes Der Einsame im Herbst (nach Qian Qi) von Gustav Mahlers Das Lied von der Erde. Dieser sechssätzige symphonische Liederzyklus für eine Tenor- und Alt- (oder Bariton-)Stimme und Orchester von 1908 basiert auf Gedichten Hans Bethges, die Übersetzungen bzw. Nachempfindungen von chinesischen Gedichten sind. (Abb.: 10)
"[. . . ] Der süße Duft der Blumen ist verflogen; / Ein kalter Wind beugt ihre Stengel nieder. / Bald werden die verwelkten, goldnen Blätter / Der Lotosblüten auf dem Wasser ziehn. [. . . ] Der Herbst in meinem Herzen währt zu lange. [. . . ] (Bethge/Mahler nach Qian Qi) (Abb.: 11)
Einen traditionellen Topos, die Parallelisierung von Jahreszeiten und Lebensstufen und die Einsamkeit des Alters thematisiert Kurt Weill in seinem September Song aus dem Broadway-Musical Knickerbocker's Holiday auf das Libretto von Maxwell Anderson. Das Werk warnt 1938 vor der Gefahr des Faschismus, gegen die auch eine bürgerliche Demokratie wie die der USA nicht gefeit ist.5 Es hatte mäßigen Erfolg, der September Song wurde zu einem heute noch geläufigen Hit. "[. . . ] Oh, it's a long, long while from May to December / But the days grow short when you reach September / When the autumn weather turns the leaves to flame / One hasn't got time for the waiting game. / Oh, the days dwindle down to a precious few / September, November [. . . ]."



"Die Blätter fallen"
Berühmt ist Rainer Maria Rilkes Herbst, ebenfalls aus Das Buch der Bilder (1920), das wieder mit geistlicher Tröstung endet: "Die Blätter fallen, fallen wie von weit, / als welkten in den Himmeln ferne Gärten; / sie fallen mit verneinender Gebärde. / Und in den Nächten fällt die schwere Erde aus allen Sternen in die Einsamkeit. / Wir alle fallen. Diese Hand da fällt. / Und sieh dir andre an: es ist in allen, / Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen / unendlich sanft in seinen Händen hält."
Dieses unaufhörliche Fallen hat Gerhard Stäbler (Jg. 1949) im ersten seiner drei Ungaretti-Lieder für Stimme und Schlagwerk 1990 erheblich konkreter gefasst. Giuseppe Ungaretti (1888–1970) schrieb im Juli 1918 das extrem verdichtete Soldati Si sta come / d'autunno / sugli alberi / le foglie. "Soldaten / Sie sind wie / im Herbst / auf den Bäumen / die Blätter." Was Blätter im Herbst tun, wissen wir, und Rilke wiederholte es vielfach: Sie fallen6 – ein Euphemismus speziell für militärische Tote, die "Gefallenen".
Bei den wenigen Worten des Gedichts sind einige Worte zur selber schon musikartigen Klanglichkeit angemessen. So erscheinen die Vokale des Titels Soldati o-a-i im 1. Vers "si sta come" krebsgängig als o-i-a. Das zusätzliche e von com-e reimt mit dem e des 4. Verses, das seinerseits einen Mikrobinnenreim mit dem ersten e bildet (le – glie). Stäbler widmet dieses Lied zusätzlich "denen, die zu früh sterben . . . " – an Aids, infolge des Fallouts von Atombombenversuchen wie Atomkraftwerken, im Krieg. Bewusst verzichtete er darauf, diese Gedichte nochmals in der Art eines deutschsprachigen Kunstlieds zu vertonen. Er zielte vielmehr darauf, sie kompositorisch abzuheben: indem er ihnen einen kommentierenden Rahmen gab und sie in musikalischem Material und musikalischen Strukturen aufhebt. Dafür verwendet er eine doppelte wechselseitige Durchdringung: die von Vokalem und Instrumentalem in der Musik und die von Italienischem und Deutschem in der Textdimension. So bedient die Sängerin ein umfangreiches Arsenal von Geräuschinstrumenten, u. a. große Trommel (auf die sie etwa Steinchen fallen bzw. prasseln lässt), Peitsche, Ratsche. Das Schlagzeug selber umfasst etwa Lithophon, Xylophon, Hackbrett sowie – mit unbestimmten Tonhöhen – Tamtam, Triangel, Claves und verschiedene Trommeltypen. Stäbler instrumentiert dabei sozusagen komplementär. Jeweils am Schluss des Lieds öffnet ein bislang nicht benutzter, neuer Klang zum nächsten Lied – das Ende bleibt also offen. Das Ungewöhnliche ergänzt Stäbler durch das – relativ – Gewöhnliche einer weiteren unterschwelligen Semantisierung: Buchstaben als Tonbuchstaben. So beschränkt sich im ersten Gesang die Vokalstimme auf die beiden Töne c und h. Sie sind als fallender Halbton der Klagetopos, zugleich als Akrostichon die Anfangsbuchstaben des Namens der Widmungsträgerin – Sängerin Carla Henius.
Wie in vielen Werken Stäblers muss (oder darf) sich auch der/die Instrumentalistin verbal äußern. Im ersten Lied spricht er (oder sie) den kurzen italienischen Text, den zu gleicher Zeit die Sängerin in lang gehaltenen Tönen singt. Als ein wichtiges generatives und formatives Mittel verwendet Stäbler hier zum wiederholten Mal das Zeichenrepertoire des Morsealphabets, das einer esoterisch-semantischen Tiefenstruktur dient. Im ersten Lied deklamieren Xylophon und Holztrommel im Morsezeichenrhythmus zeilenweise als tempo giusto den vollständigen italienischen Text. In intermittierenden Passagen mit tempo rubato erscheint, ebenfalls in Morserhythmen, der deutschsprachige Text. Ein weiteres Element sind rhythmische Muster, die aus den Betonungsfolgen beziehungsweise den Längen und Kürzen der Silben im italienischen und im deutschen Text abgeleitet sind. Ziel ist es stets, italienischen und deutschen Text gewissermaßen internationalistisch so dicht wie möglich miteinander zu verzahnen und alle Materialdimensionen mit Bedeutung aufzuladen. Vom italienischen Herbst Vivaldis bis zu diesem deutschen Herbst ist es ein weiter Weg. Doch bei allen Unterschieden der Gestaltung zeigt sich in allen Fällen die Wichtigkeit des Natur-Themas Herbst.
Anmerkungen
1 Übersetzung Werner Braun, t1p.de/ax4sx, o.D., Abruf 1.7.24.
2 Eder, Matthias: Das Jahr Im Chinesischen Volkslied, in: Folklore Studies, Bd. 4, Nanzan University, 1945, S. 1–160. JSTOR, doi.org/10.2307/3182901, S. 4.
3 Eder 1945, S. 156.
4 Zitiert nach Eder 1945, S. 135ff.
5 Ausf. Kommentar zum Beispiel von Rideamus: STANDARDS – Kurt Weill: "September Song", https://t1p.de/dcb46 (Capriccio Kulturforum) 10. September 2011.
6 Dieselbe – angesichts realer Naturprozesse naheliegende – Metaphorik verwendet Dante in einem wahrhaft epischen, umständlichen und breit ausgeführten Vergleich in seiner Divina Commedia, Inferno, III. Gesang, Vers 112–117. Dante wiederum fand ein Modell vor in der Formulierung aus Vergil, Aeneis, VI. Buch, Verse 309–312.